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Аnatoli Steiger

Tschomolungma

Teil 2

Der Schlaf kam schnell. In der Nacht schossen wieder Kanonen, einige Fuhrwerke mit Menschen und Pferden flogen durch die Luft. Die Leute versuchten, sich in der brennenden Steppe zu verstecken, ein Flugzeug mit einem lachenden Piloten hatte es auf ihn persönlich abgesehen - er rannte, das Flugzeug hinterher, der Pilot grinste, die Erde ging hoch, er schrie. Wo sind die Eltern geblieben, wo die Geschwister?
Er machte die Augen auf. Ihm Zimmer war es halbdunkel und still, hinter der Balkontür rauschten Buchen und Eichen - im kurzen Licht des Wetterleuchtens sah man ihre glitzernden und flatternden Kronen, die sich noch höher in die Dunkelheit über das Haus zogen.
Die feuchte Luft drang durch die Tür, ein Hauch von Parfüm vermischte sich mit dem Duft der Bäume, des Rapsfeldes und des Sees von draußen. Zwischen Fenster und Balkontür saß in der dunklen Ecke eine kaum zu ernehmende  Silhouette, sie hatte eine Brille, die auch manchmal wie das Laub draußen aufglänzte.
Er richtete sich auf. Die Silhouette wurde deutlicher, sie hatte eine Flasche Wein in der Hand, die ab und zu aufgehoben wurde und an ihren Zähnen klirrte. Sie merkte, dass er aufgewacht war, und sagte  mit der Stimme der Herrin des Hauses: Tschuldigung, ich wollte Sie nicht stören. Ich dachte, Sie würden es nicht merken, wenn ich still wie eine Maus das Unwetter abwarte. Wenn es Gewitter gibt, laufe ich gewöhnlich  zu meiner Kleinsten, Angela, heute machte ich dasselbe, ich habe in der Panik  vergessen, dass alle weg sind, und auch vergessen, dass Sie umgezogen sind, nur als ich hereinkam... Ich hoffe, dass Sie mir es nicht übel nehmen, ich gehe gleich. Tut mir leid, Sie geweckt zu haben.“
„Sie stören mich nicht.“
„Aber Sie sind aufgeschreckt... Wieso schreien Sie im Schlaf?“
„Eine lange Geschichte, es hat vermutlich gedonnert und geblitzt...“
„Und wie! Und es hat nur erst angefangen... Der Mond war gerade noch zu sehen... Zuerst dachte ich, ich überstehe es, aber das Haus ist leer und groß... Wissen Sie was, ich hätte eine Bitte, daneben, im Arbeitszimmer meines Mannes, steht immer Wein, vielleicht finden Sie noch eine Flasche, diese ist schon leer. Es wäre nett, wenn Sie nicht mehr schlafen würden...“
Er ging ins Nebenzimmer, schaltete das Licht ein und sah drei Karaffen mit dunkler Flüssigkeit – auf dem Tisch, im Schrank und auf dem Fensterbrett, nahm die Halbvolle vom Tisch und auch ein daneben stehendes Wasserglas und schaltete das Licht aus. Wieder geschrien? - das hießt, dass sie schon eine ganze Weile im Zimmer sein musste.
„Soll ich das Licht einschalten?“
Sie versuchte zu lächeln: „Nein,  lieber nicht. Es bringt Unheil. Das ist natürlich Aberglauben, aber...“
Er hielt das Glas gegen das Fenster, goss es halb voll, gab es ihr und sie trank es schnell aus.
„Danke. Nehmen Sie sich auch, wenn Sie wollen?“
„Kein Glas...“
„Nehmen Sie meins.“
Der Wein war von dieser Sorte, die man nur in kleinen Schlucken und in kleinen Mengen trinken sollte. So ein schwerer Edelwein ist nicht für solch ein Wetter geeignet, dachte er, ebenso wie auch nicht das große Haus für jemand allein.
„Setzen Sie sich bitte neben mich, wenn es Ihnen nichts ausmacht... Wenn jemand neben mir ist, fühle ich mich sicherer. Es muss noch einen Stuhl geben in diesem Zimmer... Es hat schon ziemlich heftig gedonnert und geblitzt und es kommt immer näher... Wenn mein Mann nicht da ist, renne ich immer zu der Kleinsten, sie ist mir ähnlich, obwohl sie keine Angst vor dem Gewitter hat. Ich hoffe, dass Sie es mir nicht übel nehmen“, wiederholte sie, „dass ich gekommen bin, um meine Angst in so einem riesigen Haus loszuwerden. Gott, wem mag es wohl Spaß machen, bei solchem Wetter allein zu sein! Haben Sie eine Zigarette? Meine sind im Schlafzimmer geblieben...“
Er fand die Zigaretten, das Feuerzeug, suchte nach dem Aschenbecher, fand auf dem Fensterbrett eine große Muschel und stellte sie auf den Boden vor ihre Füße, fand den Stuhl. Er hatte sich immer geärgert, wenn ihn etwas aus dem Schlaf rissen hatte. Er konnte danach nicht einschlafen und fand keine Rettung von den Qualen bis zum Morgenlicht. Sogar seine Lieblingsbeschäftigung, das Lesen, brachte dann keine Erleichterung, und morgens früh hatte er immer Kopfschmerzen, was überhaupt nicht vorkam, wenn er freiwillig die ganze Nacht am Wochenende durchlas. Das Gewitter hätte ihn bestimmt nicht geweckt, vielleicht nur einen Anstoß für Alpträume gegeben.
Jetzt aber, unerwartet für sich selbst, fand er die Störung des Schlafes angenehm. Im schwachen und kurzen Licht ihrer Zigarette und im Wetterleuchten,  das immer näher kam und sich plötzlich in einen unheimlichen Blitz verwandelte, sah die bezaubernde und stolze Frau aus einer anderen Welt  wie ein verwundeter Vogel aus – unsicherer Blick, zitternde Hand, zerzaustes Haar, bloße Füße, die erstaunlich klein für ihre langen Beine da unten in der Dunkelheit wie verwaist auf dem Teppich  standen.

Angst vor Gewitter war für ihn verständlich. Er hatte sogar einige Männer gekannt, die davor in Panik gerieten. Seine Mutter, er war fünf Jahre alt gewesen, hatte alle Fenster geschlossen, die Petroleumlampe ausgeblasen und sich auf die Knie gestellt – „lieber Gott…“  Das war die erste Erinnerung an seine Mutter, die zweite – sie wurde weggeführt, er - weggestoßen.
Die Gegenstände im Zimmer zeigten langsam ihre Konturen. Er nahm ihr behutsam die Karaffe aus den Händen - sie hatte sich wieder eingeschenkt: „Allein zu sein ist schon schlimm genug, bei solchem Wetter besonders, aber so ein Wetter braucht auch angemessene Getränke. Der Wein ist für einen hellen sonnigen Tag oder einen Kamin mit langsamem Feuer und trägen Schatten an den Wänden geeignet...“
„Sind Sie ein Poet?“
Er lachte. „Nein.“
„Was dann?“
„Ein Gärtner.“
„Echt?“
„War ein Geologe.“
„Geologie... was ist das?“
„Schätze suchen, seltene Metalle...“
„Also, ein Poet… Und haben Sie viele Schätze gefunden?“
„Nicht für mich.“
„Gut...“
„Warum?“
„Sonst hätten Sie sie versilbert, wären  anders, kein Poet… und bräuchten keinen Job, und wären heute nicht hier in dieser Nacht, in diesem Haus und ich wäre verrückt geworden... Jetzt zittere ich fast nicht... Also haben Sie immerhin ein Leben gerettet...“, versuchte sie zu scherzen. „Bereuen Sie es, nach Deutschland gekommen zu sein?“
„Nein.“
„Obwohl... Sie jetzt weniger haben als dort?“
„Trotzdem...“
„Aus politischen Gründen?“
„Eher aus patriotischen... Ich hab es meinen Eltern versprochen, als sie verhaftet wurden... Es hat lange gedauert.“
„Wie alt waren Sie?“
„Fünf.“
“Und nicht vergessen! Wer hat Sie erzogen?“
„Waisenhaus...“  Er lachte: „Und der Wald. Ich hab viel Zeit im Wald verbracht. Deshalb wahrscheinlich bin ich auch Geologe geworden. Der Wald wurde mein Zuhause.“
„Ich habe gehört, Sie haben keine Familie?“
„Das machte eben die Entscheidung, hierher zu kommen, leichter.“
Er zündete  sich eine Zigarette an.
„Mir auch bitte“, sagte sie, und er nahm ihr den Stummel ab und gab eine neue Zigarette. „Was für ein Getränk ist für das Unwetter geeignet?“
„Keins.“
„Echt.“
„Wodka, vielleicht.“
„Hier oben ist keiner.“
„Soll ich ihn bringen?“
„Nein! Wenn Sie gehen, bleibe ich allein.“
Es krachte über dem Dach und man hätte denken können, dass es sofort brechen  und herabstürzen würde. Das Haus zitterte, und gleich darauf wurde es im Zimmer blauhell. Dann donnerte es wieder, jetzt vor der Balkontür her. Er spürte, wie sie zusammenzuckte, sah, wie ihre Hand mit der Zigarette einen nervösen Bogen machte, hörte, wie sie danach hastig den Rauch in sich hineinzog. „Könnten Sie den Balkon zumachen, mir ist kalt, es tut mir leid, ich mache Ihnen zu viele Umstände...“
Er machte die Tür zu, holte eine Bettdecke und legte sie um ihre Schultern. Sie versuchte ihr Zittern zu bewältigen. „Ich habe gerade an eine Decke gedacht... Können Sie Gedanken lesen? Ich bin immer zu meiner Tochter unter die Decke geschlüpft, wir haben uns zugedeckt, um nichts zu hören und zu sehen...“
Sie bückte sich und drückte die Zigarette aus, nahm wieder die Karaffe von dem Boden, gab sie ihm.
Er schenkte ein. Sie trank, zog die Decke über ihren Kopf und sagte: „Wissen Sie was? Schlüpfen Sie auch unter die Decke, sonst hört es bei mir nicht auf. Versuchen Sie mich zu halten, rücken Sie ihren Stuhl näher“, und sie gab ihm den Zipfel der Decke. „Sehen Sie! So ist es sicherer, so ist es nicht so schrecklich, wenn wir uns zudecken... Gut so, danke, umarmen Sie mich ruhig, bitte, bleiben wir so ruhig sitzen, vielleicht ist es bald vorbei...“
Es begann noch heftiger zu regen. Er spürte und hörte ihren warmen  Atem – sie roch nach dem Tee von ihrer Mutter, den sie gestern getrunken hatten, wie eine Wiese mit Blumen nach einem heißen Tag  oder nach dem Regen und einem sehr guten Wein. Sie schwieg, er saß unbeweglich, wollte ihre wunderbare Wärme an seiner linken Seite und in seinem linken Arm, der über ihrem Rücken und der Schulter lag, nicht verlieren. Er zog sie behutsam fester an sich, und sie machte, gegen seine Erwartung,  keinen Versuch, sich zu lösen, im Gegenteil, sie presste sich an ihn und hörte auf zu zittern.
Aber es krachte wieder, und wieder war das Zimmer erfüllt von blauem grellem Licht, das die Finsternis durchriss und alle Gegenstände im Zimmer aufleuchten ließ. Und auch ihr  erschrockenes Gesicht. Sie zuckte wieder zusammen und presste sich an ihn, als ob er sie schützen könnte. Der Blitz war so stark, dass er die Augen schließen musste. Der grelle Lichtstreifen schlug kurz eine schmale Schneise durch die Waldung hinunter zum See und teilte ihn  wie ein Messer ein Stück Käse.
Dann wurde es kurz still und dunkel. Sie stand auf, die Bettdecke rutschte zu Boden: „Nein, es ist unmöglich... Ich habe auch hier Angst... Gehen wir lieber runter ins Wohnzimmer... Gehen wir? Runter ist nicht unter, hoffentlich... Unten ist es sicherer... Da sind wir beide vom Donner und Blitz weiter entfernt, viel mehr geschützt als hier oben in diesem Vogelhäuschen unter dem Dach.“
Er stand auch auf, sie griff nach seiner Hand, die Karaffe fiel um, er versuchte sie zu finden.
„Lass sie“, sagte sie, „wir nehmen eine andere, oder besser – wir nehmen Wodka, der mehr geeignet ist zu diesem… Unfug oder Unsinn, wie Sie sagen.“

Erst unten im Wohnzimmer fiel ihm ein, dass sie ihn abwechselnd geduzt und gesiezt hatte. Wahrscheinlich ohne Absicht. Es war auch schwer, sich in einer solchen Situation,  beim Umarmen, zu siezen. Im Wohnzimmer sah man überhaupt nichts, sie stolperte und tat sich weh an der Ecke des Kamins und  schlug vor, Holz zu holen und Feuer zu machen, aber ließ ihn nicht los, hielt ihn fest. Er merkte, dass ihre Schultern sich langsam beruhigten und sogar die Handflächen trocken wurden.
„So hat mich einmal mein Vater geführt“, sagte sie, als sie wieder ins Wohnzimmer kamen. Die Streichhölzer lagen am Kamin, er fand auf einem Tischchen eine Zeitschrift, und das Holz ging in starken Flammen auf und erhellte das Zimmer. Sie rückte zur Seite und versuchte vergeblich, die Beine unter ihrem kurzen Nachthemd zu verstecken. Er wendete zuerst seinen Blick ab, dann trat er zu ihr und legte seinen Arm wieder um  ihre Schultern, spürte aber jetzt einen leichten  Widerstand. Man sah zwischendurch auf ihrer Brust und auf ihrem Gesicht einigen Stückchen von Birkenrinde und eine Spur von Ruß - er lachte auf und versuchte sie wegzuwischen.
„Du hast auch einige Flecken“, sagte sie. „So ein Unwetter!..“
„Ein schönes Unwetter.“
Er sah sie an. Auch mit zwei Kindern sah sie mit ihren wunderbaren Wogungen wie ein Mädchen aus, schlank, hohe Brust, glatte Haut, fast ein kindliches, rundes, etwas gerötetes Gesicht, straffer Bauch. „Gott, bist du schön“, sagte er und fuhr mit dem Finger über ihre Brüste und auch über die Beine, die so geheimnisvoll unter dem feinen Hemd aufhörten. Sie zog die Beine hoch und legte ihr Kinn auf die Knie, betrachtete nachdenklich das Feuer und murmelte:  „Hast du nicht Wodka versprochen? Er ist im Computerraum.“
Er stand auf, sie griff nach seiner Hand, ging mit. Im anliegenden Raum wählten sie eine halbvolle Flasche „Moskowskaja“ aus, nahmen  zwei Gläschen und stellten alles vor den Kamin. Der Wodka war vermutlich ein Geschenk der russischen Freunde. Vieles in diesem Haus war geschenkt – Bilder, Vasen, Statuetten aus Marmor, Silber und Bronze. Die Ölmagnaten schenken gern, kriegen auch viel zurück.
„Trinken wir Bruderschaft“, sagte er und goss ein.
„Ich hab davon gehört. Wie geht es?“
„Die Arme umschlingen, austrinken und die Bruderschaft bestätigen.“
„Wie?“
Sie rutschte wieder zur Seite, er lachte. „Es ist ungefährlich - mit einem Kuss.“
Sie trank,  erwiderte aber seinen Versuch, sie zu küssen, nicht. Sie saß unbeweglich und nachdenklich, betrachtete das Feuer, es kaum zu sehen.
„Drei Mal“, sagte er. Sie schwieg. Ihre Brillen stießen zusammen. „So ein bezauberndes Kirchengeläute“.
„Was denn?“
„Unsere Brillen klingen so melodisch.“
Sie lächelte. „Schön ausgedrückt, die klingen wirklich  zauberhaft...“ Ihre Lippen gaben kurz nach, wurden weich und  warm, aber dann wandte sie ihr Gesicht ab. „Ich heiße Anette… Erzähl lieber was von dir. Warum rannst du in den Wald? Wurdest du verprügelt?“
„Ja. Zuerst. Dann habe ich viel Sport getrieben, damit es nicht so oft passiert.“
„Mein Mann wurde auch oft verprügelt...“
„Das habe ich vermutet.“
„Was? Warum?“ Sie schaute ihn überrascht an. Er wurde vorsichtiger, er sagte: „Die meisten kleinen  Schüler, wenn sie einen Charakter haben und wissen, was sie wollen, werden verprügelt. Sie versuchen in anderen Bereichen Überlegenheit zu erringen, lernen auch besser, und das gefällt nicht allen, besonders nicht den physisch Starken...“ Er dachte: Weil er neidisch ist und war, vermutlich auch ein Petzer, das ist bis heute geblieben, das sieht man im Büro.
„Ja, er wollte überall der Erste werden“; sagte sie nachdenklich, „Außer im Sport natürlich. Da war es hoffnungslos... Sie mögen ihn wohl nicht?“
„Ich respektiere ihn.“
„Ach so?“, fragte sie plötzlich feindlich. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie jetzt erklärt hätte, dass nur ein frecher und undankbarer Russe ihren Mann nur respektieren kann, statt zu lieben, wie es alle in der Firma taten. Aber sie sagte: „Aber das ist auch schon was - respektieren, obwohl nicht viel“, und er dachte, dass ihr Ehemann, sein Arbeitgeber, überhaupt nicht wusste, was es hieß, die anderen zu respektieren.
Sie trank ihr Gläschen aus, machte große Augen, schnappte nach Luft. Sie hatte die Veränderung in seiner Haltung gespürt: „Ja, ich muss auch gehen, man kann noch ein bisschen schlafen, danke für Ihre Unterstützung…“
„Gute Nacht“, sagte er. „Ich mache die Verandatür kurz auf, man spürt den Rauch, und warte, bis das Feuer ausbrennt.“

Überaschend für ihn ging sie nicht in den Flur, sondern folgte ihm und stand unentschlossen daneben, bis er die Jalousien hochgezogen hatte und die Tür aufmachte. Der Regen hatte etwas nachgelassen, plätscherte träge über die Steinplatten auf der Veranda, aber das ungeduldige Rauschen des Wassers in den Dachrinnen hatte zugenommen. Die Dunkelheit lag gleich hinter der Tür, nur wenn es im Wald blitzte, nahm die Umgebung  Konturen an. Der Donner hatte sich auch entfernt, aber in seinem stillen Grollen spürte man noch viel Kraft. Die von den Platten spritzenden Regentropfen erreichten ihre Beine - sie schrie auflachend auf,  wich aber nicht zurück. „Eigentlich muss ich gehen – der Unfug ist vorbei, aber es ist gut mit dir...“
„Dann bleib.“
„Du wirst Fragen stellen... Vor denen habe ich auch Angst...“
„Nein.“
„Überhaupt keine?“
„Nur wenn es nötig ist...“
Sie streifte mit dem Finger über seine Lippen: „Es ist nicht nötig, aber sonst muss ich gehen. Sag lieber kein Wort, ja, du musst kein Wort sagen, nicht jetzt, nicht nachher, nicht vorher, das ist das Beste, verstehst du? Von jetzt an...“
„Ja.“
Sie lächelte: „Dein Ja ist schon ein Wort, es ist schon eine Frage... Nur Nichtssagen ist keine Frage, nur Schweigen macht keine Probleme. Du schweigst… das heißt, du hast es verstanden, gehen wir zum Kamin, zum Feuer, lass die Frau sich ausreden, du kannst das irgendwo woanders machen und mit anderen, aber ich will mich jetzt und mit dir ausreden, weil du schweigen kannst. Wenn du auch sprechen, antworten und mich in ein Gespräch verwickeln würdest, würde es danach zu kompliziert werden und wir würden  dann keinen Ausweg finden... Verstehst du? Und es gibt noch eine Bedingung...“
„Und die wäre?“
„Schon wieder eine Verletzung. Noch eine – und ich gehe, willst du das?“ Sie machte eine Bewegung, als ob sie weggehen wollte, und ihn überkam ein Gefühl leichter Panik. Er wollte nicht allein sein, jetzt konnte er es nicht mehr, jetzt nicht mehr, weil er nicht mehr einschlafen würde, weil die Nacht dann schrecklich sein würde. Er hielt sie an der Schulter.
„Das ist ein vernünftiger Gedanke“, sagte sie. „Beim Schweigen kommen die besten Gedanken, kannst mir glauben, ich bin darin ein Meister, ich habe viel geübt... Und du? Ja, du musstest ja auch, sogar dein ganzes Leben lang, aber aus anderen Gründen. Aber das muss egal sein – politisch oder anders,  Schweigen ist Schweigen…“
Ja, er wollte nicht allein bleiben. Ja, er hatte auch viel das  Schweigen geübt,  jetzt wird es ihm nicht schwer fallen. Reden ist ja immer gefährlicher.
„Gut“, sie lächelte und schaute ihn schelmisch an, man sah, dass sie schon etwas beschwipst war. „Die zweite Bedingung wäre – du musst alles vergessen. Vergessen und schweigen, vergessen und kein Wort darüber, über deine Vergangenheit, wie gern hätte ich alles über dich gewusst, aber was soll’s… Und kein Wort über meine Ängste...“
Er antwortete nicht. Er war gerade dabei, alles zu vergessen. Aber das war schwieriger als schweigen, da muss man jeden Tag betrunken und jede Nacht nicht allein sein.